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300 Menschen vor Lampedusa. 400 Menschen vor der griechischen Insel Lesbos. Und zuletzt bis zu 950 Menschen vor der Küste Italiens. Unvorstellbare Zahlen. Unvorstellbar, welches Leid jeder einzelne von diesen Menschen erlitten hat. Unvorstellbar, was für tragische Einzelschicksale hinter jeder Flucht stecken. Einfach nicht vorstellbar.
Emotional tief getroffen von diesen Tragödien die vor den Türen unseres Europas tagtäglich stattfinden und in zunehmender Wut über die ignorante Politik der Europäischen Union, getrieben unter anderem von Deutschland, hatte ich außerdem das Gefühl, dass die deutsche Bevölkerung sich immer weniger unter diesen bis zu dreistelligen Todeszahlen vorstellen konnte. Ob jetzt 10, 100 oder 1000 Tote scheint keinen Unterschied zu machen. Dass aber Flüchtlinge keine Zahl, sondern jeder einzelne ein Individuum ist, scheint in Vergessenheit zu geraten. Flüchtlinge als Zahl, welche nicht mit Menschenwürde oder Menschenrechten in Verbindung gesetzt wird, sondern fast ausschließlich mit aus Flüchtlingsströmen resultierenden Problemen.
Dieser Unbewusstheit wollte ich mich annehmen und Bewusstsein schaffen. Bewusstsein dafür, dass jeder Tote ein Mensch war. Dass das Problem der globalen Flüchtlingsströme nicht nur aus Sicht der aufnehmenden Industriestaaten zu sehen sei, sondern ein Blick über den eigenen Tellerrand auch helfen kann, die andere Seite zu verstehen. Und so kam ich auf meinen Kunstlehrer Lutz Hammelmann zu und berichtete ihm von meinem Plan, weiße Kreuze im Foyer aufzustellen. Begeistert erhielt ich schon 2 Stunden später eine Mail („Deine Idee einer künstlerisch-politischen Aktion im/am Kepler lässt mich nicht mehr los... / Besten Dank!! Denkst du, ich hab nichts Besseres zu tun!?!?/ Hab ich nicht (zu haben)“1)
Aus der Idee der Pappkreuze wurden dann relativ schnell gemalte Kreuze aus Wasserfarbe, nach rund 5 Terminvorschlägen, verschiedensten Absprachen mit Hausmeister, Theaterleitung, Putzfrauen, möglichen Helfern, verschiedensten Vertretern der Presse und der Direktion und sage und schreibe 25 Emails mit Herrn Hammelmann (alle von satirischem Eigenwert) stand die „politische Kunstaktion“, musste nur noch durchgeführt werden. Ernüchternd musste ich dann zum vereinbarten Zeitpunkt am Mittwochnachmittag feststellen, dass tatsächlich keiner von den eingeladenen Helfern erschienen war. 1750 Kreuze zu zweit Malen, das wäre viel Arbeit. Jedoch hatte ich nicht mit der Spontanität der Keplerianer gerechnet und konnte hocherfreut feststellen, dass gegen Ende der Aktion rund 15 Personen fleißig am Kreuze malen waren, unter ihnen auch zwei Lehrerinnen, die die Aktion so begeisternd fanden, sodass sich beide für rund eine Stunde auf den Boden des Foyers setzen und Kreuze tupften. Und insgesamt war die Stimmung emotional bewegend, obwohl uns allen die Traurigkeit mit jedem gemalten Kreuz mehr und mehr bewusst wurde, wir jedoch alle gepackt waren von der Schönheit der Aktion. Jonas Schmid, Schüler am Faust und ein Freund von mir, drückte es dann am Ende der Aktion so aus: „Danke Nik. Es war so bewegend und schön da jetzt mitwirken zu dürfen, mit jedem gemalten Kreuz wurde mir mehr und mehr bewusst, dass für jedes der 1750 Kreuze tatsächlich ein Mensch gestorben ist“.
Freitag, der 15. Mai, ein Schultag wie jeder andere. Nur das seltsame Kreuze auf dem Boden des Foyers waren. Das dachten wohl einige, als sie am besagten Freitag das Kepler betraten. Auch wenn einige die Traueranzeige realisierten, verbanden die meisten die Aktion, wenn überhaupt mit etwas, mit dem Theater. Es musste etwas geschehen, sodass die Schulgemeinschaft das tatsächliche Ziel der Aktion bemerken konnte. In Absprache mit der Direktion wurde nicht nur großräumiger Todesanzeigen und Infotexte plakatiert, sondern auch eine Durchsage am Ende der ersten Doppelstunde durchgeführt, in welcher lediglich der Text der Traueranzeige verlesen wurde. Und dass zeigte Wirkung. Schüler informierten und unterhielten sich über das Thema, Lehrer gaben positive Rückmeldung, die Möglichkeit, seine Gedanken zur Flüchtlingsdragödie niederzuschreiben wurde genutzt. Auch wenn einige Kommentare meiner Meinung nach etwas fehl am Platz waren („Selber schuld“; „Shit happens“), zeigte die überwiegende Mehrheit tiefe Betroffenheit und Mitgefühl in ihren schriftlich formulierten Gedanken und Gefühlen („In tiefer Trauer“; „Es tut mir so leid“) und verfassten einige sogar konkrete Lösungsvorschläge wie die Aufforderung, sichere Schiffe zu schicken oder sich in einer lokalen Bürgerinitiative für Flüchtlinge zu engagieren.
So lässt sich zusammenfassend sagen, dass die politische Kunstaktion 1750 Kreuze von vielen zwar nicht aktiv bemerkt und mit dem Thema Flüchtlinge verbunden wurde, dass sich aber mindestens genauso viele mit dem Thema Flüchtlinge befasst haben und sich bewusst wurden, wie viel 1750 Menschenleben sind. Am positivsten jedoch war die Stimmung und Reaktion derjenigen, welche die Möglichkeit ergriffen haben, aktiv das Kunstwerk zu gestalten und dieses erst möglich gemacht haben. So möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal bedanken, freue mich über eine meiner Meinung nach sehr gut verlaufene Aktion und möchte diese Reflexion mit einem Zitat einer Schülerin der Kursstufe beenden:
„Und geht ein Leben auch zu End, ein Leben voller Leid, Gott nimmts zurück in seine Händ in aller Ewigkeit“
Niklas Wagner